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Krumhermersdorf im Fußballfieber


Thomas Heinsch / Andreas Biskupek 1988

1988: ... Sonntagmittag wird die normale Straßenverkehrsordnung außer Kraft gesetzt. Der Auswärtige, Zeuge dieser Veränderung geworden, beruhigt sich schnell wieder, wenn er sieht, daß Polizeihelfer am Werke sind. Die Nägel an den Lichtmasten und Gartenzäunen, an denen die Zwangspfeile und Fahrverbote aufgehängt werden, sind rostig. Wartet man ein, zwei Stunden, dann hört, sieht und riecht man eine Autolawine. In geordnete Bahnen gezwungen, wälzt sie sich den steilen Hang hinauf und verrollt schließlich auf einem Schlackeplatz oder auf freiem Feld.

Hat sich der Staub gelegt, stehen die Fahrzeuge in Reih und Glied. Die Menschen, die in ihnen gekommen sind, stehen auf dem Fußballplatz.

Es ist Sonntag kurz vor Mittag. Der Schnee vom Freitag ist geschmolzen, die Straßen sind trocken. Hinter einem Bauemhausfenster wackelt die Gardine. Vielleicht schälen die Männer heute Kartoffeln, weil sie am Nachmittag zum Fußball wollen.

"Versteckt werden sie ihn haben, den Platz", murmle ich. In dieses schmale Dorf paßt kein Stadion. Die Torstangen müßten schief auf den Hängen stehen, entlang der Mittellinie verliefe die Straße. Wie ehemals der öffentliche Weg über den alten Platz. Damals mußten sich Fußgänger durchs Spiel kämpfen. Kam ein Fuhrwerk, pfiff der Schiedsrichter ab.

Der Weg zum Fußballplatz ist steil. Auf dem Sattel zwischen zwei Hügelkuppen finde ich das "Stadion der Bauarbeiter". Man sieht den Wald, und in der Ferne leuchtet weiß die Augustusburg - spielzeugklein.

Die Gebäude im Stadion sind neu. Der Kies auf den Wegen glattgestrichen. Keine Zigarettenkippe ist vor dem Spiel darauf zu sehen. Der Rasen scheint frisch frisiert. Ein paar Männer schreiten darüber, bücken sich und streicheln die grünen Halme. Die Männer richten sich wieder auf, schweigen für Minuten und blicken den Wolken nach, die über den blauen Himmel ziehen. Dann gehen sie zum Mittagessen.

Am Nachmittag: Der erste Fan der Krumhermersdorfer. Pullover in den Mannschaftsfarben Rot und Weiß. Mit Sitzkissen reserviert er im noch leeren Stadion Plätze auf den Traversen. Durch den Hintereingang mogelt sich einer, ohne zu bezahlen. Der Kassierer spaziert zu seinem Häuschen. Der Zuschauer kehrt um und überreicht dem Rentner brav seine Einemarkundzehn.

Da große Busse den schmalen Weg zum Krumhermersdorfer Stadion nicht befahren können, muß die gegnerische Mannschaft die letzten fünfhundert Meter zu Fuß gehen. Die Gäste werden von Zuschauern verfolgt, die aus allen Richtungen auftauchen.

Auf einem Brett am Haupteingang verkündet die Sportplatzordnung: "Dem Schiedsrichterkollektiv gebührt Achtung, auch wenn die Entscheidungen des Schiedsrichters vom Publikum nicht verstanden werden. Objektivität ist hier am PIatz."

Die Polizei läßt einen Barkas von dkk Scharfenstein passieren. Dieser Betrieb unterstützt die Krumhermersdorfer seit 1984 zusätzlich zum Kreisbaubetrieb Zschopau. Der Beschluß des Fußballverbandes, durch den die Zahl der Ligamannschaften verringert, die Anforderungen an sie aber vergrößert wurden, ließ die Sportgemeinschaft von Krumhermersdorf und das Kombinat zu Verbündeten werden.

Die Spieler stehen bereit. Sie zögern.

Jemand ruft: Na kommt doch! - Nun wollen sie

Das Spiel ist - wie stets in Krumhermersdorf - ein wichtiges Spiel. Es geht in diesem Jahr um die Frage: Bezirksliga oder DDR-Liga.

Ich schaue mich um. Ein Pferd ist gekommen. Sein Reiter hat den besten Platz: Einen Sitzplatz, wenn auch hinter dem Zaun. Auf dem Feld stoppt ein LKW. Viel hat der Fahrer noch nicht verpaßt. Auf der Absperrung vor mir turnt ein Kind. Sein Vater ermahnt es regelmäßig: Bleib doch mal stehen und guck zu!

Der Fußballplatz ist der sonntägliche Treffpunkt der Krumhermersdorfer. Es soll Brüder geben, die nur hier miteinander sprechen. In der Stadt gehen die Frauen in die Oper, um ihre Garderobe zu zeigen, in Krumhermersdorf gehen sie zum Fußball.

Es gibt in der DDR mehr als tausend Gemeinden mit mehr Einwohnern als Krumhermersdorf, aber es gibt hierzulande wohl keinen Ort, in dem die Zahl der Fußballzuschauer die die Einwohnerzahl häufig übertrifft. Krumhermersdorf ist die kleinste Gemeinde der Republik, in der Fußball als Leistungssport betrieben wird. Bei tausendneunhundert Einwohnern hat die BSG mehr als zweihundert Mitglieder der Sektion Fußball.

Außerhalb des Stadions unterbrechen Familien ihren Spaziergang. Am Kiosk steht man nach Bockwurst und Limonade an. Mit dem Rücken zum Spielfeld! Sie hören es ja,wenn ein Tor fallen sollte. Wiederholung gibt es aber nicht.

"Ojeejeje", seufzt eine ältere Frau neben mir, "die Jungs machen ja den ganzen Platz zur Sau!" Nach einer Weile fügt sie hinzu: "Naja, morgen kommen die Kindergartenkinder und stopfen die Grasbatzen wieder rein."

Eine Viertelstunde nach dem Schlußpfiff ist es wieder ruhig im Stadion. Ein entferntes Dröhnen ist noch zu hören - der Abschiedsgruß der Autolawine.

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Wenn im Stadion der Bauarbeiter Punktspielbetrieb ist, hat der ABV auf dem Platz zu tun. Hauptmann Henry Neubert ist ein ruhiger und gelassener Mensch. In seinem Anschnitt wäre ein Diebstahl ein Jahrzehnteereignis. Er freut sich, wenn er in seiner Sprechzeit Besuch erhält. Aufregung gibt es nur mit den Fans einiger Gastmannschaften, die Sonntags sein Revier bevölkern.

"Betrunken, unmöglich, sogar Schlägereien gab es schon mit denen!" Für die Krumhermersdorfer Fußballwelt ein Unding. Hier geht man nicht auf den Platz, um sich auszutoben - hier kennt man einander. Auch Zuschauer und Fußballer. Es trifft einen Spieler sicher härter, wenn ihm einer, der sein Nachbar sein könnte, zuruft: "Geh wieder arbeiten, du Null!", als wenn dieser Vorwurf anonym von den Rängen eines großen Stadions käme.

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