Die Wende '89

Einwohnerversammlung im Erbgericht


Im Kirchen-Schaukasten. (1)

Die Hoffnungen waren riesig,
Orientierung aber fast nicht vorhanden.

Das Protokoll

von damals, hier erstmals wiedergegeben,
zeigt uns das.







Veranstalter:

"Initiativgruppe besorgter Bürger (2)" mit Pfarrer Roscher (3)

Zu Krumhermersdorfer Problemen hingen als Anstoß zum Nachdenken 25 Blätter, z.T. mit Fotografien von Krumhermersdorfer Mißständen aus.

Anwesende

Einwohner Krumhermersdorfs und des Kreises Zschopau (4)
Vom Rat des Kreises:
  • Herr Olschewski, Vorsitzender
  • Herr Blume, Mitarbeiter für örtliche Wirtschaft
  • Herr Böhm, Mitarbeiter für Kirchenfragen
Der Bürgermeister Krumhermersdorfs, Herr Courvoisier
Vertreter der Lokalredaktion der FREIEN PRESSE

Gesprächsprotokoll

Einleitend erläuterten Vertreter der Initiativgruppe die Ziele der Gesprächsplattform NEUES FORUM und Ergebnisse des Gesprächs Karl-Marx-Städter Bürger mit dem dortigen Oberbürgermeister. Anschließend nahmen die Anwesenden die Gelegenheit wahr, Fragen zu stellen, Meinungen zur Diskussion zu stellen und sich zu informieren. Dabei wurden folgende Themen angefragt:
Diskussion
  • Zuruf:
    Stand der Ausreise (in den Westen) aus dem Kreis Zschopau?
  • Antwort aus dem Präsidium
    124 Personen im Jahr 1989 bisher. [Von ca. 55.000 --> 0,2%]
  • Zuruf:
    Woher nehmen Staat und Partei das Recht, das NEUE FORUM nicht zuzulassen?
  • Herr Olschewski:
    Die Verfassung gilt nur als Ganzes. Zur Ausreise (Zwischenruf: "Flucht") reichte die Reise-Verordnung nicht aus, deshalb entstand ein neues Gesetz. Alle sollen mitregieren (allgemeines Mißfallen). NEUES FORUM wird zugelassen, wenn es dem Sozialismus treu ist. (Anmerkung des Protokollanten: Welchem?) Der Dialog gehört nicht auf die Straße, wo sich der Zschopauer Bürgermeister von Betrunkenen anpöbeln lassen muß, sondern in Räume.
  • Zuruf:
    Wir sollten zuhören, und wer stört, muß aus dem Saal!!
  • Herr Roscher:
    Wir sollten uns nicht nur Beifall, sondern auch Mißfallen gefallen lassen.
  • Zuruf:
    Warum waren die Demonstranten bis vor kurzem lauter Kriminelle?
  • Herr Olschewski:
    Ich habe zu niemandem Assi (Asozialer) gesagt!
  • Zuruf:
    Aber Sie stellen den Staat im Kreis dar!
  • Herr Olschewski:
    Wo wurde denn von Assis geredet? (6) (Gelächter und Mißfallen, bis Herr Olschewski von weiterem Reden Abstand nahm.)
  • Zuruf:
    Wann wird der Wahlbetrug in Zschopau endlich zugegeben?
  • Zuruf:
    Jetzt müssen geheime Wahlen einberufen werden!
  • Zuruf:
    Wie soll den jeder mitregieren?
  • Zuruf:
    Wieso wird in Gornau ein Sonderverkauf (7) durchgeführt, zu dem die Waren aus Zschopauer Läden kommen - dabei reichen sie doch schon in Zschopau nicht!
  • Zuruf:
    Wir wollen keine unfairen Wahlen wie in der BRD!
  • Herr H. (8) [?] vom NEUEN FORUM:
    Wir bekennen uns zum Sozialismus!
  • Zuruf:
    Wo geht das Schiff hin, wenn die SED nichts mehr taugt?
  • Zuruf:
    (Als Antwort auf die Selbstkritik des NEUEN FORUM "Wir hätten viel eher reden müssen":) Wer konnte denn reden - gleich war die Stasi da! (anhaltender Beifall)
  • Zuruf:
    Die Verfassung muß für alle gelten. Auch Christen sind Bürger! (9)
  • Zuruf:
    Dieser Dialog ist nur durch die Reformen Gorbatschows möglich geworden!
  • Zuruf:
    Es ist kein Zustand, daß ein heute fast 65-jähriger noch nicht in die BRD konnte! (10)
  • Zuruf:
    In den meisten Betrieben hier gibt es mehr Christen als Genossen, deshalb wird die Partei in den Betrieben nicht gebraucht.
  • Zuruf:
    Auch der Staat muß endlich seine Schuld zugeben. Welcher Lehrer ist denn schon glaubwürdig, wenn er heute das Reiserecht erläutern soll, das noch vor vier Wochen verketzert wurde?
  • Zuruf:
    (Das NEUE FORUM müßte) längst geredet haben ist Quatsch. Es gab soviel schlimme Dinge in der Schule, da nützte alles Beschweren nichts.
  • Zuruf:
    Die SED hat mit Krenz ihr Machtmonopol weiter ausgebaut. Warum wurde das Volk dazu nicht gefragt?
  • Zuruf:
    Nicht jeder Lehrer ist ein (guter) Pädagoge. Es ist nicht in Ordnung, wenn ein Lehrer seinen Schülern was einredet, an das er selbst nicht glaubt.
  • Zuruf:
    Wieso darf die SED so arrogant in den Betrieben regieren? Warum deckt sie Nieten, wenn sie in der Partei sind?
  • Herr Olschewski:
    Es gab auch Fehler. Eine Wetterfahne wie Harry Tisch (11) ist auch für mich unannehmbar. Wir haben Probleme vielleicht nicht konsequent genug bearbeitet. Uns gefiel nicht, daß Baukapazität nach Berlin ging (12) (Zwischenruf: "Was haben Sie dagegen getan?") Protestiert! (Gelächter) Ein gewisses Schuldgefühl gebe ich zu. Aber ich muß sagen, ich habe mich immer bemüht.
  • Jemand vom NEUEN FORUM:
    Das reichte eben nicht aus ...
  • Bürgermeister Courvoisier:
    Ich muß sagen, daß ich mich nicht schuldig bekenne, irgend einen Krumhermersdorfer unterdrückt zu haben!
  • Ein Vertreter der FREIEN PRESSE:
    Es ist schon immer ausführlich berichtet worden. Wir haben auch früher schon Kritik geübt (13) (Unruhe) Vielleicht nicht genug. Wir sollten uns nicht gegenseitig zerfleischen in der Presse. Keine Tabus heißt auch: Nicht nur kritisieren. Wie das NEUE FORUM schon sagt: Keine Konfrontation, sondern Zusammenarbeit mit der SED. (14)
  • Herr Roscher:
    Aber gerade bei Ihnen bei der FREIEN PRESSE gibt es noch Tabus: Erst als diese Versammlung nicht mehr auf den Ort Kirche angewiesen war, sondern hier im Kulturhaus stattfinden konnte, waren Sie bereit, auf der Lokalseite dazu einzuladen.
  • Jemand vom NEUEN FORUM:
    Honecker hat gesagt, wir hätten einen höheren Lebensstandard als die BRD - gegen solche dreisten Lügen haben wir uns nicht genug gewehrt.
  • Herr Olschewski:
    Besserer Handel braucht mehr Arbeitskräfte (Zwischenruf: "Mehr Waren!")
  • Zuruf:
    Andere Öffnungszeiten der Läden würden möglich, wenn der Rat des Kreises 10% Leute einsparte.
  • Herr Olschewski:
    Wir haben durch Abstellen von Leuten (15) auch diesen Sommer wieder unter schwierigsten Bedingungen die Versorgung mit Getränken gesichert.
  • Herr Arnold aus Krumhermersdorf:
    Was heißt hier gesichert! Ich bin Limofahrer, ich stehe Stunden mit dem LKW an der Limobude in Wolkenstein. Und dann kommt nach Feierabend die Weisung, "Ihr müßt jetzt gleich Bier fahren, sonst könnt ihr euren Gewerbeschein herbringen". Und dann kommt noch einer mit einem Westaufkleber am LKW und beschimpft mich als Staatsfeind, bloß weil ich mal was gesagt habe.
  • Jemand (16) vom NEUEN FORUM:
    Überall fehlen Arbeitskräfte. Mit sozialistischer Hilfe (17) ist da nichts zu machen, selbst fünfundzwanzig Prozent Einsparung von Verwaltungskräften beim Rat des Kreises wird da noch nicht helfen. Jeder macht jetzt DIALOG. Aber den Problemen rücken wir nur durch besser organisierte Arbeit zuleibe. (Beifall) Und deshalb muß Schluß sein mit der Abrechnung der Betriebe nach der Warenproduktion (d.i. der Umsatz), der Nettogewinn ist entscheidend!
  • Zuruf:
    Arbeitskräfte werden wir sofort haben durch einen sozialen Wehr-Ersatzdienst.
  • Zuruf:
    Keine Reservisten mehr einziehen für die polnische und tschechische Grenze - auch die fehlen uns als Arbeitskräfte.
  • Zuruf:
    Weniger Stasi - mehr Arbeitskräfte! (Beifall)
  • Herr Olschewski:
    Auch die Stasi arbeitet in der Volkswirtschaft. Bei DKK sind z.B. 70 Angehörige der Stasi in der Produktion beschäftigt.
  • Zuruf:
    Und warum hat die Stasi nicht eher gemeldet, was im Land faul ist?

Auswertung

(Der letzte Tagesordnungspunkt sollte Aussagen treffen zur Auswertung der hier zur Sprache gekommenen Probleme)

Herr Roscher lud zur Öko-Gruppe nach Waldkirchen ein; um wirklich etwas zu tun und nicht nur zu reden.

Herr Böhm schlug ein Treffen mit dem Superintendent und allen Pfarrern vor, damit sozusagen gleiche Machtebenen miteinander sprächen (18). Herr Roscher lehnte das ab, weil da wieder nur Funktionäre mit Funktionären sprächen.

Jemand (FREIE PRESSE?) schlug vor, daß der Vorsitzende vom Rat des Kreises jede Woche in der Zeitung über Probleme und Vorhaben vom Rat des Kreises schreibt.

Jemand schlug eine weitere solche Versammlung irgendwann vor, in der Rechenschaft von Leuten abzulegen sei, die den angesprochenen Problemen nachgehen würden.

 
  1. Keinen ganzen Tag hing dieses Plakat, da schlug einer die Scheibe ein. Später hörte man, er sei bei der Stasi gewesen.
  2. Die Organisation NEUES FORUM war damals noch verboten. Der Titel der Einladung sollte in verkappter Form zeigen, wer einlud: Kirche und NEUES FORUM.
  3. Eigentlich die Ortsgruppe des NEUEN FORUM, die auf Initiative Pfarrer Roschers zusammenkam.
  4. Nicht in allen Orten war es möglich, sich auf diese Art zu versammeln und zu informieren. Teilweise gab es keine Initiatoren für solche Veranstaltungen, teilweise wußten die Staatsorgane solche zu verhindern.
  5. Überall in den staatliche Medien! Alle Demonstranten und öffentlichen Kritiker waren zu diesem Zeitpunkt noch nach offizieller Lesart Asoziale und Kriminelle.
  6. Verkauf von Mangelware
  7. Herr Hilgert spielte eine ziemlich zwielichtige Rolle in der neuen Ortsgruppe. Er versuchte unverhüllt, dort in eine einflußreiche Position zu kommen. Die allgemeine Konzeptlosigkeit des NEUEN FORUM verhinderte dies jedoch.
  8. Das bezog sich auf die allgemeine Unterdrückung und Zurücksetzung von allen, die sich öffentlich zur Kirche bekannten.
  9. Das ist gewiß nicht wahr! Vor 1961 konnte jeder die Westgrenze überschreiten. Damals war ein jetzt (1989) 65-jähriger immerhin 37 Jahre alt.
    Und gerade in den Jahren der Perestroika beim "großen Bruder" waren sehr viele DDR-Bürger zu Besuch im Westen gewesen - wie wir aus unserem Bekannten- und Verwandtenkreis bestätigen können.
  10. Chef der Gewerkschaft im Land
  11. In Größenordnungen! Selbst für die Örtlichen Staatsorgane war daher Bauen ein Problem.
  12. Naja, ganz ganz handzahme vielleicht. Ich erinnere mich an paar wenige Artikel von der Lokalseite, die man darunter rechnen könnte.
  13. Das NEUE FORUM schreibt in seinem Gründungsaufruf, 5. Absatz: "Wir brauchen das solidarische Gespräch, das die Übereinstimmung sucht, ohne unterschiedliche Meinungen unter den Tisch zu kehren."
  14. "Abstellen" bedeutet, daß Leute aus Betrieben und zu einem geringen Teil aus dem Rat des Kreises in Engpaßbetriebe wie die Limofabrik in Wolkenstein geschickt wurden.
  15. Das war, glaube ich, ich selbst.
  16. Bezeichnung für eben jene Arbeitskräfte-Abstellung.
  17. Das war wohl ein weiterer mißglückter Versuch, die Revolution in den Saal zu verlegen.