Die Wende '89

Beobachtungen und Erlebnisse


Im Sommer 1989 veranstaltete Pfarrer Roscher ein (Kirch)gemeindefest, zu dem er Unterschriften sammelte gegen den geplanten Abriß eines Dorfes im Leipziger Braunkohlengebiet (1). Nur wenige sehr Mutige oder Unbesonnene trugen sich ein.

Mitte Oktober 89, als die DDR in allen Fugen krachte und die Presse nicht mehr zur Regierung hielt, lud Pfarrer Roscher zu einer "Initiativgruppe" ins Pfarrhaus alle diejenigen ein, die mehr oder wenig "systemkritisch" waren. Unter diesen fanden sich zwei völlig unbekannte Leute, von denen der eine, Hilgert, einen langen Lebenslauf voller Repressalien erzählte. Eben dieser Hilgert schien Pfarrer Roschers engster Freund zu sein. Er drängte sich so auffällig in den Vordergrund, wollte so unbedingt von uns zu Wortführer gewählt werden, daß wir vermuten, er ist von der Stasi gewesen.
Es ging dort nicht um Probleme und Lösungsvorschläge, sondern ausschließlich um die Bildung einer "Ortsgruppe NEUES FORUM Krumhermersdorf". Pfarrer Roscher lehnte den ihm angetragenen Vorsitz ab mit der Begründung, als Pfarrer sei eine solche Funktion nicht angemessen. (Wörtlich!) Wenige Wochen später erfuhren wir, daß er sich in den Kreistag wählen ließ.

Diese Versammlung sollte eigentlich die Einwohnerversammlung am 31.10. vorbereiten. Es gab dazu einen zweiten Treff. Erheblich weniger Krumhermersdorfer kamen. Diskussionen um Wirtschaftsalternativen (wir brachten einige Vorschläge von Gorbatschow mit, z.B: das Wählen von Betriebsleitern) wurden von Pfarrer Roscher sehr brüsk abgebrochen, dafür sei Herr Hilgert der Experte (nicht wir...).
Unterschriften für Hilgerts Wahl wurden gesammelt (2)

Man ging ansonsten sehr unverbindlich auseinander. Ich bot an, ein paar Probleme mit Foto und Text auszustellen - dagegen hatte keiner was, aber es fand sich auch kein Mitstreiter.

Zur Einwohnerversammlung stellten wir die noch erhaltenen Umwelt- und Schulsünden aus. Man las sie mit Interesse, aber damals las man alle noch ach so seltenen kritischen Worte mit Interesse.
Ich saß mit im Präsidium und schrieb auf, was diskutiert wurde. In der Meinung, daß alles das Gesagte Grundlage für die Arbeit der sogenannten Ortsgruppe würde. (3)
Diskutiert? Es war eher ein kollektives Dampf-Ablassen, bei dem der Kreisratsvorsitzende Olschewski der Prügelknabe war.

Eigentlich sollten meine Notizen Grundlage für eine Zeitungsnotiz sein. Doch Pfarrer Roscher verfaßte diese Notiz ohne die Mitschrift (4).

Eigentlich sollte das Ergebnis der Versammlung auch Vorlage für ein Gespräch mit Bürgermeister Courvoisier sein. Zur nächsten Versammlung erfuhr ich von einer Terminverschiebung beim Bürgermeister und war recht überrascht, daß der Termin schon festgestanden hatte. Schließlich war in dieser Runde noch kein Wort Auswertung zur Einwohnerversammlung erfolgt.
Beschlossen wurde, dazu ein Flugblatt herauszugeben. Der Text sollte zur nächsten Versammlung festgelegt werden, bis dahin sollten wir zusammentragen.

Ehe eine neue Versammlung angesetzt wurde, erschien dieses Flugblatt.
Pfarrer Roscher rief zur Mitarbeit an Arbeitsgruppen Umwelt und Bildung auf, nannte Namen als Ansprechpartner (5).
Das Flugblatt beinhaltete im Wesentlichen drei "Problemkreise, um die in nächster Zeit Diskussionen geführt werden sollten":

Schon länger beschlossen war da die Besichtigung (besser: Kontrolle) des Polizeiturms (7) im Januar 90. Es fand sich nichts Sensationelles, und die Technik war steinalt, wie allerorten damals in der DDR. Der Chef der Turmbesatzung versicherte (8), daß alle Übertragungskanäle stillgelegt seien. Daß der Turm drei Kellergeschosse habe (9) sei nicht wahr.
Damals gab es Gerüchte, es seien Stasi-Waffen im November und Dezember eingelagert worden. Tatsache ist, daß mehrmals LKW-Kolonnen in dieser Zeit nachts zum Turm fuhren. In dieser Zeit stand ständig eine Mischmaschine innerhalb des Drahtzaunes. Doch (erwartungsgemäß) fand sich nichts derartiges. Der Turm hatte nur einen Keller, der voll Kohlen lag. Frischer oder zumindest neuer Mörtel war nirgends zu sehen ...

Es gab dann im Januar/Februar eine Unterschriftenkampagne (10) gegen den Abbrennplatz an der Börnichener Straße, die NICHT vom Neuen Forum ausging (Ich glaube, Frau G. Timmel war da recht engagiert). Es wurde erreicht, daß das Verbrennen untersagt wurde. Allerdings sieht das betreffende Grundstück immer noch (1998) wie eine wilde Müllkippe aus.

Im März versuchte eine weitere Gruppe (Demokratischer Aufbruch?), die Namen aller Stasi-Mitarbeiter zu veröffentlichen. Im Sportgerätewerk sammelte M. Wellenbüscher dafür Unterschriften. Wer dagegen (11) war - war wohl selbst bei der Stasi!!! Doch verlief diese Aktion im Sand.
Heute ist klar, daß die Chance, solche Listen zu bekommen, kaum je bestand.

Den Sozialismus hatten die Krumhermersdorfer gründlich satt, der Westen lockte mit blühenden Landschaften und goldenen Bergen, die Kritikfähigkeit war wie das Bildungsniveau niedrig:
Die CDU gewann die Wahl im Frühjahr 1990 mit Abstand..
Die CDU-Politik dankte es mit einer totalen Zerstörung der örtlichen Industrie, mit einer Rekordarbeitslosigkeit besonders hier im Erzgebirge, mit immer neuen Gebühren und Steuern.
4 Jahre Holzhammerpropaganda a la DDR

einerseits und niedriges Bildungsniveau andererseits ließ sie trotzdem auch die nächste Wahl mit absoluter Mehrheit gewinnen!
 
  1. In den Jahren 1996 bis jetzt geht es erneut zwei Dörfern so. Die Energiekonzerne haben inzwischen gesiegt, der Abrißtermin ist festgelegt. Pfarrer Roscher ist inzwischen Mitglied des Kreistages, doch geäußert hat er sich zu diesem Sachverhalt weder öffentlich noch privat.
  2. Ich wüßte gern, ob ich damals unterschrieben habe.
  3. Weit gefehlt! Kein Mensch hat sich später für diesen Text interessiert.
  4. und (so schien uns) recht einseitig.
  5. Wir hatten uns zwar (so meine ich) mehr als andere für Umweltprobleme stark gemacht, genannt aber wurden andere. Wir hätten damit leben können. Doch alles in allem wurde immer deutlicher, daß die Leute vom Neuen Forum keinen besseren Sozialismus oder eine ganz neue Gesellschaftsart wollten, sondern lediglich Westverhältnisse. Und daß die meisten ein geradezu krankhaftes Verlangen nach Macht hatten. Das war nicht unsere Welt, unsere Vorstellung, und so traten wir aus, ehe wir noch eingetreten waren ...
  6. Irgendwo waren unsere Name schon gefallen zum Stichwort Schaubergwerk, und überall sagte die Leute: Die müssen doch bekloppt sein, es gibt soviel Probleme, und die wollen ein Schaubergwerk aufmachen!
    Dabei waren wir GEGEN ein solches Bergwerk angetreten, wie man in den Ausstellungsblättern sehen kann ...
  7. Ich hatte angeboten, meinen Bruder (Telefon-Ingenieur) mitzubringen, damit auch einer verstand, was wir dort sehen würden. Doch wir waren beide dort nicht gefragt, ich hatte den Eindruck, daß Pfarrer Roscher nur die Presse-Leute kannte.
  8. Voller Wut! Daß er gewöhnlichen Zivilisten Rede und Antwort stehen sollte, schien ihm mächtig zu wurmen, und daher fielen seine Antworten mehrfach sehr patzig und unglaubhaft aus.
  9. Das sagte mir Frau Clauß aus Zschopau, deren Mann (gest. vor '89) am Projekt dieses Turms mitgearbeitet hatte.
  10. Wir gingen mit Unterschriften sammeln. Nur der Schuldirektor Kahl unterschrieb nicht und verbot es auch seiner Frau. Heute ist er die Nummer Eins als Umweltschützer im Dorf ...
  11. Trotzdem lehnte ich ab zu unterschreiben: Wollen wir der Lynchjustiz Tür und Tor öffnen?

Krumhermersdorf 1998