Man schreibt
das Jahr 1907:

Alles über die Wasserleitung
Neunzehnhain-Chemnitz

Untere Neunzehnhainer Talsperre

Vor nunmehr vier Jahren, am 21. August 1903, geschah in Einsiedel der erste Spatenstich zum Bau der Wasserleitung Neunzehnhain-Einsiedel. Heute ist diese großartige Anlage, die in Deutschland ihresgleichen nicht hat, der Vollendung nahe und nur wenige Wochen werden noch vergehen, bis das kristallklare Naß aus dem Neunzehnhainer Walde in Chemnitz gekostet werden kann. Ein schwieriges Stück Arbeit ist dann vollendet, das tief unten im Schoße der Erde, unbemerkt von den meisten Einwohnern unserer Stadt, ausgeführt worden ist. Nur die regelmäßig bei Tage und in der Nacht aus den Bergestiefen heraufdringenden Schüsse gaben Kunde von den rastlosen Vordringen der Mineure, und die sich immer höher türmenden Halden an den Mundlöchern zeigten, welche ungeheuren Mengen Gestein schon gebrochen waren. Fast zehn Kilometer Stollen sind in diesen vier Jahren aufgefahren, ausbetoniert und soweit nötig auch ausgemauert worden. Freilich, beim Bau des Simplontunnels, des Tauern und Karawankentunnels wurden noch bedeutend größere Fortschritte erreicht, aber mit welchen Mitteln konnten diese Unternehmungen auch arbeiten! Und wieviele Überraschungen und Störungen traten beim Chemnitzer Stollenbau den Ingenieuren entgegen. Wasserandrang, Rutschungen, Einbrüche standen stets auf der Tagesordnung, und die Bewältigung des sich dabei auslösenden Gebirgsdrucks zwang zu Vorkehrungen, die die höchsten Anforderungen an die ausführenden Arbeiter und Beamten stellten, so daß diese sich oft in großer Lebensgefahr befanden. Ein Unglücksfall trübt auch die Erinnerung an die sonst glückliche Vollendung der Arbeiten.

Von der mit Ablauf dieses Jahres nahezu vollendet werdenden Lautenbach-Talsperre an der Klatschmühle bei Neunzehnhain ausgehend, durchquert die Leitung

den Börnicher Rücken, die Wasserscheide zwischen Zschopau und Flöha, in einem 2720 m langen Stollen, welcher in dem Nesselgrund unweit Krumhermersdorfs zutage tritt. Mit dem Bau dieses Stollens wurde am 26. August 1903 / 6. Februar 1904 begonnen. Der Vortrieb geschah von beiden Seiten, und zwar mit Preßluft-Maschinenbohrung (System Frölich). Bei dem Auffahren dieses Stollens traf man vor allem von der Neunzehnhainer Seite auf große Schwierigkeiten infolge des vollkommen zerstörten Gebirges. Sowohl die Vortriebsarbeiten als auch die an den gefährlichsten Stellen sobald wie möglich vorgenommene Ausmauerung erforderten große Vorsicht und waren mit großen Kosten verbunden. Trotz dieser Schwierigkeiten und der mehrere Monate währenden Unterbrechungen wegen Maurerarbeiten geschah der Durchschlag bereits am 17. Oktober 1905, also nach insgesamt 2¼ Jahren Bauzeit. Die Abweichung der von beiden Seiten in den Berg hineingetriebenen Mittelachsen betrug an der Durchschlagstelle nur vier Millimeter, wie überhaupt das tadellose Zusammentreffen aller sämtlich zweiseitig betriebenen Stollen einen beachtenswerten Erfolg bedeutet.

Der Stollen findet vom Nesselgrund seine Fortsetzung in einer von Tage ausgebauten Kanalleitung, welche bis in das Dorf Krumhermersdorf hineinführt. Das Tal selbst, in welchem sich die Bewohner des langgestreckten, durch seine Hausindustrie (Strumpfwirkerei, Tüllwiebeln) bekannten Ortes angesiedelt haben, wird durch eine fünfbogige Brücke überspannt, welche eine Sehenswürdigkeit für den sonst vom Ausflugsverkehr wenig berührten Ort bildet. Am Ende der Brücke tritt die Leitung wieder in den Berg ein. Die Nähe bewohnter Häuser und die geringe Decke dieses 338 m langen Stollens erforderte beim Auffahren wiederum große Vorsicht. Beim Austritt aus diesem Stollen bietet sich dem Auge ein prächtiges Panorama. Vor uns liegt das Zschopautal mit seinen hier besonders hübschen Felspartien, die Stadt Zschopau selbst mit dem Schlosse Wildeck, der dunkle, sich nach Witzschdorf und Scharfenstein erstreckende Wald. Aus der Ferne grüßt die Dittersdorfer Höhe, prächtig umrahmt von dem tiefschwarz erscheinenden Forste. Immer weiter dehnt sich der Blick, wenn man die Linie des an den Stollen anschließenden Kanals über die Felder hinweg verfolgt. Zur Rechten taucht Schloß Augustusburg auf, aus dem Grün der Fichten schimmern die roten Dächer der Villenkolonie hervor. Vor uns rauscht die Zschopau über das Wehr und groteske Felspartien türmen sich am anderen Ufer auf. In dieser landschaftlich so reizvollen Gegend erhebt sich der fast 20 m hohe und 140 m lange Aquädukt, welcher bestimmt ist, die als Dücker (Düker) das Zschopautal


kreuzenden Rohrleitungen zu tragen. Er spannt sich in drei größeren und zwei kleineren Bogen über die Zschopau, die Talwiesen und die Eisenbahn und zeichnet sich aus durch besonders glückliche Verhältnisse, sowie gediegene schöne Ausführung in verschiedenfarbigen Materialien. Dieses herrliche Bauwerk wird der Nachwelt Kunde geben von dem Unternehmungsgeist der Stadt Chemnitz, die zum Wohle ihrer Bewohner das gewaltige, sonst dem Auge soviel verborgene Werk der Wasserleitung entstehen ließ. Reichlich 80 m Höhenunterschied überwindet die am anderen Ufer fast bis auf den Gipfel des Sauberges bei Waldkirchen wieder hochsteigende Dückerrohrleitung. Malerisch sich in das Landschaftsbild hineinfügende Häuschen bezeichnen hüben und drüben ihr Ende. Sie vermitteln den Eingang zu den sich anschließenden Kanal- und Stollenstrecken und bergen in ihrem Inneren die Abschlußvorrichtungen für die Rohrleitungen.

Vom Mundloch der am Sauberg wieder beginnenden Stollenleitung gilt es noch einen Blick zurückzuwerfen in die prächtige Umgebung, denn bald hat uns das Dunkel des Berges wieder aufgenommen, und erst in Einsiedel, nach fast 6 km langer Wanderung, begrüßen wir wieder das Tageslicht. Den steilen Sauberg selbst kreuzt ein mittels Handbohrung vorgetriebener Stollen von 420 m Länge. Er bot den Geologen Interesse durch das Auftreten eines Kersantit-Ganges, während dem Laien die schimmernden Wände eines mächtigen, dem Bergmann wegen seiner Festigkeit unwillkommenen Quarzganges, Freude machen. Es folgt ein nur 292 m langer Stollen, welcher die von Gornau nach Waldkirchen führende Eisenstraße mit ziemlich geringer Decke kreuzt und im sogenannten Truschbachtale mündet. Ziemlich parallel der genannten Straße setzt dann der nächste Stollen an, welcher beim Auffahren und insbesondere bei der Ausbetonierung besondere Schwierigkeiten dadurch bot, daß mehrere von der Stadtgemeinde angekaufte Quellen nach dem Stollen durchbrachen und ihm überreichlich Wasser zuführten. Auch diesen 1300 m langen Stollen, der meist dichten, dunkeln und außerordentlich festen Glimmerschiefer durchfährt, quert ein Kersantitgang. Je näher man dem im Gornauer Tale gelegenen Mundloch kommt, desto milder - weniger fest - wird das Gebirge. Aber auch mitten im Gebirgsstock, fast an der Stelle der höchsten Überlagerung, zeigt sich vollkommen mürbes, lettiges Gestein, welches mit den Fingern zu zerdrücken ist und bei Wasserzudrang zerläuft. Diese Strecke mußte selbstverständlich mit aller nur erdenklichen Vorsicht behandelt werden.

Der anschließende Stollen ist rund 1800 m lang. er führt von dem Gornauer nach dem Dittmannsdorfer Tale. Auch in ihm zeigen sich im tiefen Berginneren teils lettige, teils sandige Strecken, welche auf eine vollkommene Zerstörung des Gebirges hinweisen. An einer dem Treibsand ähnlichen Stelle war beispielsweise mit einem 2 m langen Bohrer kein fester Grund zu finden.

Lange Strecken mußten durch Mauerung gesichert werden. Dieser Stollen wurde von der Gornauer Seite mittels Handbohrung und von der Dittmannsdorfer Seite mittels Maschinenbohrung (System Frölich) vorgetrieben. Die im Dittmannsdorfer Tale stationierte Maschinenanlage diente zugleich dem Vortrieb des Stollens in Richtung Dittmannsdorf-Einsiedel.

Mit diesem Stollen wird der Übergang zwischen der Glimmerschiefer- und der Tonschieferformation durchfahren. Ähnlich der vor dem Übergange des Glimmerschiefers zum Gneis gelegenen Strecke Nesselgrund-Neunzehnhain zeigten sich vor dem Übergang zwischen Glimmerschiefer und Tonschiefer beiderseits außerordentlich feste Partien, während sich die eigentliche Übergangszone durch gewaltige Zerstörungen kennzeichnet, welche wiederum besondere, außerordentlich kostspielige und gefährliche Sicherungen verlangten.

Der Vortrieb des 2812m langen Stollens Dittmannsdorf-Einsiedel wurde Ende August 1903 begonnen. Von Dittmannsdorfer Seite her waren, wie erwähnt, Frölichsche, von Einsiedler Seite her Hofmannsche Bohrmaschinen in Anwendung. Der Durchschlag des Stollens erfolgte nach mehrmonatlichen Unterbrechungen des Vortriebes wegen Ausmauerung der Druckstellen am 23. März 1906.

Nur wenige Wochen und das schwierige Werk dieser großen Stollen- und Kanalanlage wird vollendet sein. Glück auf!


C+H Doerffel
Krumhermersdorf 1998
Die obere Talsperre
Das Marmorbergwerk Weißer Ofen
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